Das byzantinische Vermächtnis im ukrainisch-russischen Kontext. Rezeptionen und Deutungen des 19. und 20. Jahrhunderts im Vergleich

Vor dem Hintergrund der gegenwärtigen Expansionspolitik Russlands und der daraus folgenden Konflikte zwischen Russland und der Ukraine werden gegenwärtig konkurrierende, zum Teil aus verschiedenen historiographischen Traditionen geerbte Konstruktionen dessen, was man als „russische Geschichte“ bezeichnet, aufgerufen. Dem postsowjetischen russländischen Imperialdenken wurde eine Analogie mit bzw. Genealogie aus dem byzantinischen Imperium (wieder) zugeschrieben und medial lanciert. Andererseits werden seitens der ukrainischen Historiographie jene historischen Argumente betont, die die europäischen Ursprünge der Geschichte der slawischen Völker zu rekonstruieren, zu denen Byzanz nicht gezählt bzw. seine Bedeutung anders ausgelegt wird. Diese Auseinandersetzung hat eine sehr reiche Vorgeschichte, als mit der Etablierung der Geschichte als Wissenschaftsdisziplin und der Entstehung der modernen ukrainischen und (groß)russischen Nationen im 19. Jahrhundert die Auseinandersetzung mit dem byzantinischen Erbe bzw. mit der Translatio byzantinischer politischer Kultur unter den slawischen Völkern zum Gegenstand wissenschaftlicher und öffentlicher Kontroversen wurde.

Das Projekt setzt sich mit den Rezeptionen und Deutungen der byzantinischen Topoi in den großen Meisternarrativen der konkurrierenden historiographischen Diskurse und religiös-politischen Ordnungsentwürfen und Rekonstruktionen in Russland und in der Ukraine im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert auseinander. Die Namen von Nikolaj Karamzin (1766-1826), Michail Pogodin (1800-1875), Sergej Solov’ev (1820-1879), Vasilij Ključevskij (1841-1911) stehen nach der Meinung der Vertreter der ukrainischen Geschichtsschreibung wie Nikolaj Kostomarov (1817-1885), Michail Dragomanov (1841- 1895), Vladimir Antonovič (1834-1908), Michail Gruševskij (1866-1934) für genealogische und staatszentrierte Entwürfe des Russländischen Imperiums, denen sie einen demokratisch gesinnten, föderativen Beginn der alten Rus’ als Geschichtsbild Russlands entgegensetzen. Außerdem bezog man sich in der politischen Rekonstruktion der Geschichte auf das aus Byzanz kommende orthodoxe Erbe und die theokratisch-imperiale Ordnung. Deshalb stehen die kirchengeschichtlichen Werke von Erzbischof Filaret Gumilevskij (1805-1866), Metropolit Makarij Bulgakov (1816-1882), Evgenij Golubinskij (1834-1912), Petr Znamenskij (1836-1917) ebenfalls im Fokus der Untersuchung. Wie der Referenzraum „Byzanz“ in diesen Geschichtsbildern unterschiedlich gewichtet wird, ist Gegenstand des Projekts.

Betreuung des Post-Doc-Projektes:Prof. Jan Kusber, Johannes Gutenberg-Universität Mainz

Förderung

Stipendium des Leibniz-WissenschaftsCampus Mainz

Unterstützung

Stipendium des Leibniz-WissenschaftsCampus Mainz

Publikationen

  • A. Alshanskaya, Das Erbe von Byzanz in der ukrainischen Historiographie im 19. und zu Beginn des 20. Jhs. In: Südosteuropa-Jahrbuch 45 (2020) 305-316.
  • A. Alshanskaya, The Reception of Byzantium in Russian Church Historiography, in: A. Alshanskaya, A. Gietzen, C. Hadjiafxenti (eds), Imagining Byzantium. Perceptions, Patterns, Problems, BOO 11 (Mainz 2018) 63-70.
  • A. Alshanskaya, Vizantija kak argument v russkoj cerkovnoj istoriografii 19 – nač. 20vv.. In: S. Šatravskij, P. Kostylev (Hg.), Istorija religii: materialy V Meždunarodnoj naučno-praktičeskoj konferencii „Religija i istorija“, 20—22 aprelja 2017 goda, Minsk, Respublika Belarus’, Minsk 2018, 88-93.
  • A. Alshanskaya, Das Erbe von Byzanz im geschichtspolitischen Diskurs Russlands. In: Religion & Gesellschaft in Ost und West 7–8 (2017) 26–29.