Der Herrschaftsübergang im Königreich Sizilien. Praktiken der Eroberung (1189–1208)

1189 starb König Wilhelm II. von Sizilien aus der normannischen Hauteville-Familie kinder- und damit erbenlos. Infolgedessen entbrannte ein Thronstreit zwischen dem Grafen Tankred von Lecce, einem illegitimen Abkömmling des sizilischen Herrschergeschlechts, und dem römisch-deutschen König Heinrich VI. Letzterer war mit Konstanze von Hauteville, der Tante von Wilhelm II., verheiratet. Tankred starb 1194 und bald konnte sich Heinrich VI., mittlerweile Kaiser, gegen Tankreds minderjährigen Sohn Wilhelm III. durchsetzen. Er herrschte bis zu seinem Tod 1197 im Königreich Sizilien. Danach fungierte seine Frau Konstanze bis zu ihrem eigenen Tod 1198 als Regentin für den minderjährigen Sohn und zukünftigen Kaiser Friedrich II. Nominell ging die Vormundschaft im Anschluss auf Papst Innozenz III. über, doch verschiedene Akteure, deren Machtpositionen auf den Eroberungsprozess zurückgingen, füllten das relative Machtvakuum im Königreich Sizilien mindestens, bis Friedrich II. ab 1208 erste eigenständige Regierungshandlungen vollzog.

Das Dissertationsvorhaben untersucht innerhalb dieser zeitlichen Grenzen zwischen 1189 und 1208 den Eroberungsprozess, in dessen Zuge das Königreich Sizilien seine Eigenständigkeit verlor und Teil des römisch-deutschen Reiches wurde. Die Mediävistik interessierte sich für Eroberungen bisher meist als Manifestationen der Handlungsmacht eines Herrschers, was auf eine überholte Form der Geschichtsdarstellung zurückgeht, die zur Personalisierung von Geschichte neigte. Stattdessen konzeptualisiert das Projekt sie als fortschreitende Aushandlungs- und Kommunikationsprozesse.[1] Gegenstand der Analyse sind die kulturellen Praktiken von Eroberern und Eroberten. Sie in Fallstudien einzelner Aspekte des Eroberungsprozesses zu analysieren, ist jedoch „nicht Selbstzweck, sondern […] versucht die großen Fragen, Begriffe und Phänomene kleinzuarbeiten.“[2]

Das Ziel des Projekts ist es, die Akteurs-und Quellen-Perspektiven ‚von oben‘ sowie ‚von unten‘ zu einer praxeologisch informierten kulturgeschichtlichen Untersuchung des Phänomens ‚Eroberung‘ um die Wende vom 12. zum 13. Jahrhundert zu kombinieren. Es sind daher alle Eroberer und Eroberten, also „diejenigen [...], die sich im Prozess eines durch Gewaltanwendung oder -androhung herbeigeführten und mit Grenzverschiebungen einhergehenden Herrscherwechsels einer von den Siegern bestimmten Ordnung unterstellen und anpassen müssen“,[3] zu berücksichtigen und ausdrücklich eben nicht nur die Herrscher. So soll das multiperspektivische Phänomen ‚Eroberung‘ unter Anwendung praxeologischer Terminologie als Verkettung von in Zeit und Raum situierten Einzelvorgängen sichtbar gemacht werden.

Ein Fokus liegt auf dem privaturkundlichen Quellenmaterial, das bisher nicht systematisch für die gewählte Zeitperiode ausgewertet worden ist. Die erste Praktik, die dabei in den Blick genommen wird, betrifft die „politischen Datierungen“ sizilischer Privaturkunden nach der Herrschaftszeit eines Herrschers.[4] Die Eroberungs-Situation beeinflusste ihre Form maßgeblich. Das gilt auch für die Erneuerung solcher Privaturkunden nach dem Thronstreit, zu der es nur kam, weil das Königreich Sizilien erobert worden war. Die Praktik von Ausstellern, Kommentare in ihre Privaturkunden einzufügen, die Landverkäufe mit der eigenen Not im Eroberungs-Kontext begründeten, erlaubt Rückschlüsse auf Kriegsfolgen zu ziehen. In diesem Zusammenhang bietet sich außerdem eine Auswertung der Belege in der zeitgenössischen Historiographie für Verwüstungen und Plünderungen an, um die einschlägigen Praktiken der dafür verantwortlichen Akteure – Eroberer wie Eroberte – zu identifizieren. Eine umfassende Analyse von Privat- und Herrscherurkunden sowie der zeitgenössischen Historiographie soll es weiterhin ermöglichen, Praktiken von Eroberern und Eroberten im Kontext des zur Begründung von Handlungen zentralen, aber selten präzisierten Quellenbegriffs der ‚Treue‘ zu greifen. Zu fragen ist nach den in einem „Treueid versprochenen Diensten“, dem „konkreten Inhalt der Treue“, der Belohnung beziehungsweise Sanktion von Treue und Untreue sowie den „verschiedenartigen öffentlichen Inszenierungen von Treue.“[5] Insbesondere ist hier auf die Praktiken der Pisaner und Genuesen zu blicken, mit denen Heinrich VI. Vereinbarungen zur Flottenunterstützung bei der Eroberung des Königreichs Sizilien schloss. Nachdem die Genese dieser Vereinbarungen geklärt wurde, soll geprüft werden, inwiefern sie von beiden Parteien eingelöst wurden.

 


[1] Rike SZILL, Eroberte im Mittelalter. Aspekte einer Geschichte historischer Umbruchssituationen ‚von unten‘, in: Eroberte im Mittelalter. Umbruchssituationen erleben, bewältigen, gestalten (Europa im Mittelalter 39), hg. von Ders. und Andreas Bihrer, Berlin/Boston 2023, S. 1–18, hier S. 14.

[2] Marian FÜSSEL, Praxeologische Perspektiven in der Frühneuzeitforschung, in: Praktiken der Frühen Neuzeit. Akteure · Handlungen · Artefakte (Frühneuzeit-Impulse 3), hg. von Arndt Brendecke, Köln /Weimar / Wien 2015, S. 21–33, hier S. 31.

[3] Kordula WOLF, Eroberte im Mittelalter, oder: Wer schreibt die Geschichte? Ein Resümee, in: Eroberte im Mittelalter (wie Anm. 1), S. 467–486, hier S. 471.

[4] Vgl. Heinrich FICHTENAU, „Politische“ Datierungen des frühen Mittelalters (erstmals 1973), in: Ders., Beiträge zur Mediävistik. Ausgewählte Aufsätze. Bd. 3: Lebensordnungen – Urkundenforschung – Mittellatein, Stuttgart 1986, S. 186–285.

[5] Knut GÖRICH, Fides und fidelitas im Kontext der staufischen Herrschaftspraxis (12. Jahrhundert), in: Fides/Triuwe (Das Mittelalter 20,2), Berlin u. a. 2015, hg. von Susanne Lepsius und Susanne Reichlin, S. 294–309, hier S. 295 f.

 

Betreuung:
Prof. Dr. Ludger Körntgen