Kairos und Krisis: Angemessen entscheiden in militärischen Kontexten vom 6. bis zum 12. Jahrhundert
Jacqueline de Romilly definierte das καιρός-Konzept «insaisissable que Protée» (Vorwort Trédé-Boulmer 1992) wegen der Polysemie, die es in der altgriechischen Kultur charakterisiert. Im literarischen, historischen, ethischen, ästhetischen und rhetorischen Bereich nahm καιρός von Mal zu Mal eine lokative Bedeutung (neuralgischer und todbringender Ort), eine ethisch-normative Bedeutung, oft im Zusammenhang mit den Begriffen μέτρον und συμμετρία (richtiges Maß, weise Mäßigung) und, besonders seit der klassischen Periode, eine zeitliche Bedeutung (kritischer Zeitpunkt, glückliche Gelegenheit, Augenblick der Entscheidung) an. Tatsächlich stellte und stellt die historisch-sprachliche Entwicklung des Terminus καιρός immer noch eine verwickelte und faszinierende Herausforderung für die etymologische und historische Forschung dar.
Das Dissertationprojekt bringt den Terminus καιρός mit einem Forschungsfeld in Zusammenhang, das erst kürzlich größere Aufmerksamkeit in der Forschung erlangt hat, nämlich den militärischen Entscheidungsprozessen (Clauss/Nübel 2020). Byzantinistische Studien zu militärhistorischen Themen richteten ihr Augenmerk in der Regel auf die Analyse der militärischen Strukturen und auf ihre Funktionsweise (Kolias 1988; Treadgold 1995; Haldon 1999, 2002, 2007; Birkenmeier 2002; Strässle 2006; Ravegnani 2009; Sarantis/Neil 2013), während die Entscheidungsprozesse, die den Einsatz dieser Mittel bei der Führung eines Feldzuges betrafen, bisher kaum auf ein vergleichbares Interesse gestoßen sind (Grünbart 2020).
Das Projekt zielt darauf ab, die semantische Bedeutung und die Funktion des καιρός-Konzeptes hinsichtlich der militärischen Entscheidungsprozesse in historiographischen, militärtaktischen und paränetischen Quellen aus dem Zeitraum vom 6. bis zum 12. Jahrhundert zu analysieren. Einen Feldzug durchzuführen bedeutet permanent Entscheidungen zu treffen und stets die richtigen, der Situation angemessenen Lösungen zu finden. Um das auf optimale Art und Weise zu tun, musste der Inhaber von Entscheidungskompetenz jeden einzelnen Aspekt sorgfältig abwägen und prüfen. Die Wichtigkeit einer richtigen und umsichtigen Planung und Truppenführung im Krieg durch denjenigen, der in einer Entscheidungsverantwortung steht, sei es der Kaiser oder ein von ihm beauftragter General, findet viel Widerhall in den byzantinischen historiographischen, normativen und taktischen Quellen, die mit besonderem Nachdruck betonen, wie wesentlich der ‘Zeitfaktor’ war, wenn im militärischen Bereich verantwortungsvolle Entscheidungen getroffen werden mussten. Καιρός ist das Schlüsselwort, mit dem der qualitative Aspekt der ‘geeigneten Zeit’ für Entscheidungen und deren Umsetzung in Handlungen charakterisiert wird. Die in den byzantinischen Quellen beschriebenen Entscheidungsprozesse zu analysieren bedeutet nicht nur die Durchführung eines Einzelfeldzuges genau zu untersuchen, sondern auch im weiteren Sinn, die byzantinische Art und Weise der Kriegsführung zu verstehen sowie in die ‘Leitprinzipien’ der byzantinischen Polemologie einzudringen. Diese erweist sich als stark beeinflusst von der griechisch-römischen Kriegskunst, hat aber trotzdem ihre spezifischen Charakteristika. Das Erkennen des καιρός, des ‘geeigneten Zeitpunkts’ zum Handeln, zum Übergang aus einer Phase der Planung zur konkreten Aktion mit der vollen Verantwortung des Entscheidungsträgers, wird besonders von den taktischen Quellen als ein grundlegender Aspekt der byzantinischen στρατηγικὴ τέχνη betrachtet.
Im Rahmen des Projektes wird das byzantinische καιρός-Konzept mit seinen klassischen Vorläufern in Beziehung gesetzt, die semantische Entwicklung untersucht, gleichzeitig aber auf die neue christlich geprägte Umgebung geachtet.